Trauer in der Hospizarbeit
Wie ist das eigentlich, wenn ein Mensch im Hospiz stirbt, zu dem man eine Bindung aufgebaut hat? Den man über viele Monate begleitet, ins Herz geschlossen hat? Mir ist das jetzt passiert. Wie ich mit meiner Trauer und diesen Fragen umgehe, erzähle ich Dir in diesem Artikel.
Frau M. war von Anfang an etwas ganz Besonderes für mich. Wir haben uns kennengelernt und sofort gemocht. Sie war eine ältere Dame und vom Besuch beim Hausarzt mit einer unheilbaren Diagnose ins Krankenhaus und von dort direkt ins Hospiz gekommen. Wir haben uns an einem Nachmittag im vergangenen Jahr kennengelernt. Sie erzählte mir ihre Geschichte und war von Anfang an voller Akzeptanz mit ihrer Situation. Sie hatte sich abgefunden mit ihrer Erkrankung, hat ihre Einschränkungen tapfer ertragen. Und doch war es ihr wichtig, weiter am Leben teilzunehmen. Obwohl sie so gut wie erblindet war, kam sie regelmäßig in den Aufenthaltsraum, um dort mit den anderen Gästen zu essen.
Nach und nach gewöhnte ich mich an Frau M. Meine Besuche bei ihr prägten meine Dienste im Hospiz. Wir führten stundenlange Gespräche, die ich sicher nie vergessen werde. In einem früheren Blogartikel habe ich schon über die schönen Momente mit ihr berichtet.
Frau M. hatte keine Angst vor dem Tod
Nun ist Frau M. gestorben. Sie wollte das. Sie konnte nicht mehr. Sie war müde. Sie stellte das Essen ein, weil sie gehen wollte. Sie hatte keine Angst vor dem Tod. Sie war sicher, dort ihren schon lange verstorbenen Mann und ihre geliebte Mutter wiederzusehen. Ihre Erkrankung war weit fortgeschritten. Und zum Schluss zog sich die sonst so gesellige Frau auch nach und nach immer mehr zurück. Irgendwann konnte sie es nämlich nicht mehr ertragen, dass die Menschen, mit denen sie sich beim Essen angefreundet hatte, nach und nach starben. Sie wollte keine Beziehungen mehr eingehen und blieb in ihrem Zimmer. Man kann also sagen, dass es für sie eine Erlösung war, sterben zu dürfen. Es war in ihrem Sinne. Sie sagte mir in einem unserer Gespräche, sie sei zufrieden mit ihrem Leben. Und möchte nun gehen.
Als ich von ihrem Tod erfuhr, hat es mich trotzdem getroffen wie ein Schlag. Für einen Moment lang zumindest. Meine Gedanken fuhren Achterbahn. Ich war traurig und bestürzt. Auch, wenn ich weiß, dass ich im Hospiz Menschen begleite, die mit ziemlicher Sicherheit sterben werden. Rational ist mir das total bewusst. Emotional ist es trotzdem noch einmal was anderes.
Viele Fragen in meinem Kopf
Ich weiß nicht, ob Du den Spruch kennst „Du siehst die Sonne untergehen. Und erschrickst dann doch, wenn es plötzlich dunkel ist.“ Genau so habe ich mich gefühlt. Und in meinen Kopf schossen unzählige Fragen, auf die ich ehrlich gesagt noch nicht abschließend eine Antwort gefunden habe: War es richtig, eine Beziehung zuzulassen? Wie gehe ich künftig damit um? Bin ich stark genug für diese Aufgabe, wenn ich so traurig bin, wenn jemand dort stirbt? Bin ich dem gewachsen? Und ist es normal, um einen Gast im Hospiz zu trauern, wo das Sterben doch dazugehört?
Als Hospizhelfer werden wir begleitet
Für alle, die im Hospiz im Einsatz sind, gibt es regelmäßig eine Supervision. Dort besprechen wir solche Gefühle, beraten uns darüber, Knoten im Kopf werden gelöst und Erfahrungen ausgestauscht. Das ist unheimlich wichtig.
Und spätestens nach der Supervision beantworte ich mir die Frage, ob meine Trauer „normal“ ist, mit einem „ja“. Denn auch, wenn Frau M. keine Angehörige von mir war, so hat sie doch mein Herz berührt. Ich durfte von ihr lernen. Sie hat Spuren hinterlassen. Und wenn ein Mensch, der mich berührt hat, stirbt, darf ich auch traurig sein. Abgesehen davon kann ich meine Arbeit dort auch nur wirklich gut machen, wenn ich mein Herz öffne für die Menschen und ihre Geschichten.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich auf den Tod von Menschen im Hospiz ganz unterschiedlich reagiere. Berührt bin ich immer. Aber bei manchen kann ich es einfach schneller annehmen. Kann Ihren Tod begreifen als Teil des Lebenskreislaufs. Ich kann sie gehen lassen, auch, wenn ich kurz vor ihrem Tod noch ihre Hand gehalten habe. Und bei anderen kann ich das nicht so gut. Da brauche ich einen Moment, um sie auch emotional, nicht nur rational, gehen zu lassen. Ich habe für mich beschlossen, das genau so anzunehmen. Und ich weiß, auch aus der Erfahrung meiner eigenen Trauer, dass der Schock vorübergeht. Ich weiß, dass es nun meine Aufgabe ist, die Beziehung zu dem Menschen, der mir hier auf Erden so wichtig geworden ist, zu verändern. Offen zu sein für Zeichen, die mir schicken aus der Welt, in der sie jetzt sind.
Schon lange ist für mich der Regenbogen ein solches Zeichen. Und ausgerechnet an dem Tag, an dem ich erfahren habe, dass Frau M. verstorben ist, tat sich am Nachmittag ein unfassbar schöner Regenbogen am Himmel auf. Nachdem der Tag vorher grau und verregnet gewesen war. Ich sah mit einem Lächeln hinauf und dachte mir „schön, dass Du angekommen bist“.
Ich bin sicher, die Trauer um Frau M. wird mich noch eine Zeit lang begleiten. Ich werde sie annehmen. Und zum Schluss dankbar sein dafür, dass ich sie kennenlernen durfte. Dankbar für unsere Gespräche. Dankbar für die Zeit mit ihr. Denn die nimmt mir niemand mehr. Auch nicht der Tod.
4 Comments
Carmen
Es tut mir gut, deine Erfahrungen zu lesen. Denn auch ich bin von einer „Begleitung“ im privaten zu tiefst berührt. Ich hatte in diesem Fall mit der Person die gegangen ist nichts zu tun. Aber mit der Partnerin von ihm. Wir sind uns mental sehr nahe gekommen und beide haben mein Herz tief berührt. Oft hab ich mich gefragt, ob das so sein darf. Ob es so richtig ist. Ob zu viel- wieviel steckt von meinen Themen dahinter. Ich versuchte auf mein Herz zu hören und doch kam manchmal die Angst dazwischen. Mittlerweile fühle ich, dass ich auf dem Weg ein wichtiger und richtiger Bestandteil bin.
Ich bin auch sehr dankbar dafür, da ich sehr viel lernen darf, am meisten wieder einmal über die Liebe…
Danke und dir alles Liebe auf deinem weiteren Weg.
Sabine
Liebe Carmen,
danke für Deinen Kommentar und dass Du Deine Erfahrungen teilst. Mich berührt, was Du schreibst. Dass uns Trauer und Verlust gleichzeitig so viel über die Liebe lehren, ein schöner und trauriger Gedanke zugleich.
Alles Liebe für Dich
Monaurlaub
Wunderschöner Artikel!!
Ich hab einen Kloß im Hals und bin froh, dass es Menschen wie Dich gibt! Deine Trauer macht Dich menschlich, auch für die Angehörigen ist es sicher ein schönes Gefühl, zu wissen, dass die Verstorbene so gemocht wurde.
Danke fürs Teilhabenlassen!
LG
Sabine
Ich danke Dir sehr für Deine Worte !