Hospizarbeit

Verhungern Menschen am Lebensende?

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Ich erinnere mich noch gut daran, wie es für mich war, als mein Papa im Sterben lag und nichts mehr essen wollte. Ich kann das Gefühl, das ich damals hatte, kaum beschreiben. Ich kann nur sagen, es war eine der schlimmsten Phasen in dieser Zeit überhaupt. Mein Papa hat so gerne gegessen – und jetzt? Lassen wir ihn wissentlich verhungern? Er konnte schlicht nicht mehr schlucken. Kaum eine Tatsache macht den nahenden Tod so deutlich wie die, dass Menschen aufhören zu essen. Wie soll man damit umgehen?


Auszuhalten, dass ein geliebter Mensch in seiner letzten Lebensphase nichts mehr essen kann oder will ist unglaublich schwer und belastend. Viele Dinge, die ich an diesem Abend gelernt habe, hätte ich gerne damals schon gewusst. Es wäre mir wahrscheinlich etwas leichter gefallen, anzunehmen, dass mein Papa jetzt nichts mehr zu essen braucht – so schwer das auch zu ertragen ist. Auch deshalb ist dieser Abend für mich sehr intensiv, ich lerne unglaublich viel, viele Dinge werden mir klar, die ich so vorher nicht wusste. Zum Beispiel, dass der Sterbeprozess sogar erschwert wird, wenn der Betroffene bis ganz zum Schluss noch Nahrung zugeführt bekommt. Für die Verdauung braucht der Körper sehr viel Energie. Deswegen wird im Hospiz sehr genau darauf geachtet, bis wann Ernährung noch sinnvoll ist. Denn das Sterben soll hier in Würde und im Sinne des Betroffenen passieren. Ein Team aus Ärzten und Pflegern entscheidet das aus medizinischer Sicht, im Idealfall in Absprache mit dem Betroffenen selbst und natürlich den Angehörigen. Kann sich der Betroffene nicht mehr äußern, werden die Ärzte und das Pflegeteam sich mit den Angehörigen alleine beraten. Natürlich wird über die Einstellung der Ernährung nicht leichtfertig entschieden. Das ist ein Prozess und hier geht es nicht darum, jemanden bewusst von Nahrung abzukoppeln, um ihn verhungern zu lassen. Sondern darum, ein würdiges Sterben zu ermöglichen. Denn natürliches Sterben, und das Ziel in einem Hospiz, passiert ohne Ernährung.

Wie Ernährung das Sterben erschwert


Ich habe an diesem Abend zum ersten Mal den Begriff des „Todesrasselns“ gehört. Oft ist das Sterben davon begleitet. Das ist nichts anderes als Flüssigkeit, die sich im Bereich des Kehlkopfs ansammelt und zu einem rasselnden Geräusch führt. Auch bei jedem gesunden Menschen sammelt sich dort regelmäßig Flüssigkeit, wir „räuspern“ das einfach weg. Das können Sterbende aber nicht mehr. Diese Ansammlung wird umso mehr, wird am Lebensende noch Flüssigkeit gegeben – und sie wird dadurch natürlich viel mehr zur Belastung für den Patienten.

Die seelische Bedeutung von Ernährung


Essen, Trinken – das ist so viel mehr als „Nahrungsaufnahme“. Christiane Möller, stellvertretende Pflegedienstleiterin im Hospiz Lebensbrücke erklärt uns, in welch vielfältiger Hinsicht Ernährung für uns wichtig ist. Nicht nur körperlich, um uns Energie zuzuführen. Sondern auch als sozialer Faktor. Wenn wir ans gemeinsame Weihnachtsessen denken, an Essen, das uns Geborgenheit vermittelt, weil wir es von lieben Menschen zubereitet bekommen. Denke ich zum Beispiel an das Essen bei meiner Oma, steigt mir sofort ein wundervoller Duft in die Nase. Oder denken wir an das gemeinsame Essen mit der Familie, an einem Tisch, das gehört so fest zum Alltag vieler Menschen. Und genau das fällt in der letzten Lebensphase oft weg. Zum Beispiel, weil der Betroffene gar nicht mehr am Tisch sitzen kann. Weil er nichts mehr schmeckt oder eben nicht schlucken kann. Uns das bewusst zu machen, ist eine wichtige Grundlage, um dann damit umzugehen und Alternativen zu finden.

Ein Gefühl von Geborgenheit


Es berührt mich sehr, als Christiane Möller erzählt, dass im Hospiz auch schonmal ein Sauerbraten gekocht wird, obwohl klar ist, dass keiner der Bewohnerinnen und Bewohner ihn essen wird. Es geht um den Duft, der durch die Flure zieht. Um Erinnerungen, die geweckt werden. Ein Gefühl, das Geborgenheit vermittelt. Weil eben oft auch das Hungergefühl nicht mehr da ist, reicht oft schon der Anblick oder der Geruch von Essen, um sich wieder geborgen zu fühlen. Also werden auch schon einmal ganze Weihnachtsmenüs gezaubert, der Tisch schön eingedeckt, es wird fein angerichtet. Und manch einer erfreut sich nur an diesem Anblick, ohne etwas zu essen. Wie kann das sein? – fragst Du Dich jetzt vielleicht. Vor einem vollen Teller sitzen und nichts essen wollen? Wie es sich anfühlt, überhaupt keinen Hunger mehr zu verspüren kannst Du vielleicht nachfühlen wenn Du an Deine letzte richtig dicke Grippe denkst. Da hat man entweder gar keinen Hunger oder Lust auf etwas ganz Bestimmtes. Und darauf wird im Hospiz eingegangen. Hat jemand Lust auf einen Schluck Cola oder einen kleinen Löffel Eis, reicht oft schon eine winzige Portion, denn am Ende des Lebens geht es nicht mehr um eine ausgewogene Ernährung. Sondern um Geschmack. Viel Essen können Sterbende eben oft nicht mehr zu sich nehmen. Bei Bewohnern, die es belastet, nichts mehr essen zu können, wird natürlich auch Rücksicht genommen. Sie wird man nicht mit an den gedeckten Tisch setzen, wenn sie das nicht möchten.

Bedingungslos auf den Einzelnen eingehen


Mich bewegt so viel individuelle Zuneigung zu Menschen. So viel Fürsorge, so viele kleine Ideen, um die letzten Wochen und Tage des Lebens zu erleichtern. Und gleichzeitig frage ich mich natürlich, wie es für mich sein wird, das erste Mal bewusst zu sehen, wenn jemand einfach nicht mehr essen kann und will. Denn auch wir als Helfer wollen ja „versorgen“. Essen ist eben ein elementarer Bestandteil des Lebens. Die Bewohner, die noch essen können, bekommen übrigens ihr Wunschgericht zubereitet. Auch hier wird ganz individuell auf den Wunsch des Einzelnen eingegangen.

Wie gehen wir mit Angehörigen um?


Für uns als Hospizhelfer ist es ganz besonders wichtig, auch die Angehörigen zu begleiten. Und uns in sie einzufühlen. In die Frau, die ihren Mann über Jahrzehnte liebevoll bekocht und versorgt hat. Wie mag es sich für sie anfühlen, wenn sie ihm sein Lieblingsgericht kocht und mit ins Hospiz bringt, der Teller aber unberührt bleibt? Das verletzt, das macht Endlichkeit klar und kündigt den Abschied an. Das tut einfach weh. Unsere Aufgabe ist es dann, den Angehörigen zu erklären, dass Menschen an ihrem Lebensende oft keinen Hunger und keinen Durst mehr verspüren. Dass sie „Nahrung“ in anderer Form brauchen. Zum Beispiel Form von Nähe. Von gemeinsamem Aushalten. Von da sein. Von einer Hand, die ihre hält. Hier ist viel Fingerspitzengefühl erforderlich. Viel gemeinsames Aushalten, viel Verständnis für Ängste, die das „Verweigern“ von Essen bei Angehörigen ganz oft auslöst.

Warum hören Menschen am Lebensende auf zu essen?

Einen entscheidenden Satz zum Thema Ernährung am Lebensende habe ich auch in einem sehr interessanten Buch gelesen („Leben bis zuletzt“): „Menschen sterben nicht, weil sie aufhören zu essen. Sie hören auf zu essen, weil sie sterben.“ In diesem Satz ist für mich so viel Erkenntnis, Schmerz, Beruhigung und Lerneffekt zugleich.

Aus diesem Abend gehe ich in jedem Fall unglaublich bereichert und auch irgendwie gestärkt hervor. Weil mir so viele Dinge bewusst wurden. Die Erkenntnis, dass wir Menschen in ihrem Sterben im besten Sinne damit unterstützen können, dass wir ihnen eben KEINE Nahrung mehr zuführen, setzt sich in mir so langsam. Mal sehen, wie es sein wird, das in der Praxis zu erleben und auszuhalten.

3 Comments

  • Alice

    Ich bin beeindruckt von diesem Beitrag und danke Dir sehr für diesen kleinen Ausschnitt, der so gross und reich in mich geht und „anfasst“. Das hat mich bereichert, denn ich beschäftoge mich gerade aufgrund meiner Arbeit mit dem Entwurf einer Mappe, in der alles Wichtige gesammelt werden darf (auch zum Thema Patientenverfügung etc.). Und ein Punkt wird dank dieses Blogs sein: was Esse ich gerne. Denn wenn man es selbst nicht mehr äussern kann, ist es umso wichtiger, dass es Andere wissen.
    Merci

  • Birgit Oppermann

    Ein wahnsinnig wichtiges Thema, über das man nicht zu viel schreiben und lesen kann. Vielen Dank für diesen Text! Je mehr Angehörige wissen, dass Essen und Trinken am Lebensende keine wichtige Rolle mehr spielt, umso besser.

    • Sabine

      Liebe Birgit, vielen Dank für Deinen Kommentar. Für mich als Angehörige damals war das ein wirklich schwieriges Thema. Unser Hausarzt hat mich sehr unterstützt, indem er mir genau erklärt hat, was im Körper beim Sterben passiert. Und dass Essen eben nur noch eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Auch, wenn es mir einen Stich ins Herz versetzt hat – macht es den Prozess des Abschieds doch so deutlich – haben mir seine Worte sehr geholfen. Wenn ich nur ein kleines Stück davon mit meinen Texten weitergeben kann, habe ich schon viel erreicht. Alles Liebe für Dich.

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